Wandern durch die Berggebiete

Der Mythos

Der Mythos des “Verlorenen Thals” ist eine Walser Legende, die von einem geheimnisvollen Tal erzählt, von einer wunderbaren und lauschigen natürlichen Umgebung, wo die Bergvölker an den Anfängen ihrer Geschichte gelebt hatten. Dieses Tal ging darauf verloren, und mit ihm die Erinnerung daran, wo sich jener wunderschöne Ort befindet. Sie begannen ihn wieder zu suchen, indem sie von Tal zu Tal wanderten, von Gipfel zu Gipfel, in der Hoffnung, jenes Tal endlich wieder zu finden, das für sie Heimat und Welt bedeutete, wo sie wieder in vollendeter Harmonie mit der Bergwelt und ihrer Gemeinschaft würden leben, wirtschaften, Vieh züchten und Häuser bauen können.

In den Tälern südlich des Monte Rosa, einer freundlichen, bewohnbaren und bebaubaren Umgebung, fanden die Walser das Tal ihres Mythos, eine Art Mutterberg, wo ihre Dörfer und Gemeinschaften durch Überwindung der vom rauen Klima, dem harschen Umfeld und den beschränkten Ressourcen gestellten Herausforderungen wachsen und sich vermehren konnten.

Die Redewendung

Mit der Redewendung “er geht wie ein Walser”, die in Rätien seit den letzten Jahrhunderten des Mittelalters verbreitet ist – in der geographischen Region also, die heute Graubünden heißt und früher von den Rätern bevölkert war – bezeichnet man jeden Berggänger, der mit einem forschen, stolzen und kräftigen Schritt geht, ohne die weiten Wege zu fürchten, ja sie fast bevorzugend.

Die Männer, die als „Walser“ bezeichnet werden, kamen von weit her und gingen weit weg weiter, wie beispielsweise zum Jahrmarkt von Thusis in der Viamala-Region. Sie waren nicht so sehr durch ihre besondere Sprache bekannt, als vielmehr durch ihre Gewohnheit, lange Wege in den Bergen zu begehen, die sie übrigens sehr gut kannten. Niemand sagte „er spricht wie ein Walser”, sondern vielmehr “er geht wie ein Walser“.

Die Botschaft

Mythos und Redewendung drücken mit unterschiedlichen Erzählformen dieselbe Botschaft aus: Will man die Welt des Walser Volkes verstehen, so muss man Mobilität, Eroberung und Erweiterung des Lebensraums berücksichtigen. Es handelte sich allerdings um einen schwierigen, anspruchsvollen und wilden Lebensraum, der andererseits unendlich, faszinierend und frei war und sich da befand, wo zu jener Zeit nur wenige Völker zu leben in der Lage waren.

In der Welt der Walser ist der Raum ein wichtigerer Aspekt als die Zeit: Auch wenn die Geschichtsforschung, insbesondere jene, welche den Ursprung der Walser Wanderungen entdecken wollte, das zeitliche Element bevorzugt hat, ist es in Wirklichkeit der Raum, der die Siedler im Hochgebirge anspornte, da zu wohnen, zu bleiben und für immer zu leben, wo vor ihnen niemand es gewagt hatte. Die Walser Verben sind einfach und unmittelbar Verben der Bewegung: ankommen, bleiben, aufbrechen, zurückkommen. Es sind die Verben eines Volkes von Auswanderern, das schon immer in der Bewegung das Wesen seines Werdens sah: im wiedergefundenen Tal ankommen, hier wohnen bleiben, wieder aufbrechen auf der Suche nach Arbeit oder neuen Siedlungsmöglichkeiten und schließlich saisonal ins Herkunftsdorf zurückkehren.

Diese Art, den Bogen des eigenen Daseins als Weg zu begreifen, auf dem man auch der christlichen Spiritualität begegnet, wirkt sich auch auf die Struktur des von den Walser Siedlern geformten und zivilisierten Territoriums aus. Nicht nur ein einziges Zentrum, sondern eine Vielzahl an Dörfern, Almen, Molkereien, die auch mehrere Marschstunden voneinander entfernt waren, jedoch durch ein Netz von Familienbeziehungen, Sippenverwandtschaften, Solidarität und Zusammenarbeit auf der Grundlage des gemeinsamen oder gemeinschaftlichen Besitzes von Umweltressourcen (Wasser, Wälder, Weiden) miteinander verbunden waren.

Heute stellt die außerordentliche Kulturlandschaft, welche die Walser im Laufe der Jahrhunderte durch ihre Tätigkeit geformt haben, ein inspirierendes Modell für die Zukunft (und nicht der Vergangenheit) dar, denn aufgrund ihres Gespürs für ein mögliches Gleichgewicht zwischen Nutzung und Bewahrung der Umwelt achteten sie darauf jene Ressourcen nie auszubeuten, welche sich regenerieren müssen und auch den kommenden Generationen als Lebensgrundlage dienen werden. Auch wir können uns, ihren Spuren folgend, auf den Weg machen und ernsthaft versuchen „wie ein Walser zu gehen“.